Bei unserem letzten Besuch von unseren Patenfamilien auf der Insel von Taquile am Titicacasee im Mai 2016 gerieten wir mitten in die Pfingstfestlichkeiten. Ich begleitete ein kleine Gruppe von Vegetariern, die gerne bei den Feierlichkeiten dabei sein wollten. Zu allererst wurden wir von unseren Patenkindern Maria und Elias, die wir vor vielen Jahren miteinander verheiratet hattet ‘anständig’ angekleidet. Dies bedeutete, dass alle Frauen in etwa sieben schwere bunte Röcke, einem weiten gewebten Gürtel und dem typischen Chuku (schwarzem Kopftuch mit bunten Bommeln) eingehüllt wurden. Der einzige Mann in unserer Gruppe wurde in ebenso in einen einheimischen Taquileño umgewandelt. Er trug die heimischen Wollhosen, Hemd, kurze Weste und auf dem Haupt die Stirckwollmütze eines verheirateten Mannes. Die Tatsache, dass wir keine Ojotas (Gummireifensandalen) oder etwa fleischfarbene Wollstrumpfhosen dabei hatten, geschweige denn dass die Röcke an uns ‘Gringas’ zu kurz aussahen, provozierte einige gutmütige Sticheleien seitens unserer Familie, aber wenigstens gaben wir uns Mühe uns soweit wie möglich anzupassen.
Das Extragewicht an unseren Körpern verlangsamte unsere Prozession als wir zu dem Ort, in der Nähe der Schule, wo sich all die carguyoqs (Würdenträger, die für die Festlichkeiten verantwortlich waren) des unteren Teils der Insel versammelt hatten. Sie spielten sikuris (Panflöten) und tanzten in einem grossen Kreis und zwischendurch gab es kurze Pausen, um mit Bier oder Chicha (Maisbier) anzustossen.
Nach einer Weile marschierten wir weiter zum Haupplatz, um uns einen günstigen Platz auf dem Dach der Läden der Kunsthandwerkkooperative zu beschaffen, um die Ankunft der Prozessionen aus der oberen und unteren Hälfte der Insel, die die zwei gegensätzlichen Hälften des Andendualismus darstellen, zu beobachten.
Die Musiker und Tänzer der zwei Truppen erreichten den Platz fast gleichzeitig. Plötzlich gab es eine Kakophonie von Klängen während sich jede Tanzgruppe gegen ihre Rivallen behaupten wollte. Mein Compadre Gonzalo hatte uns erklärt, dass die Gruppe, die die meiste Unterstützung der Gemeinschaft bekam und die auch ihren eigenen Rhythmus behalten konnte und sich nicht etwa im Rhythmus der nachbarband verlor, den Wettbewerb gewinnen würde. Für uns schien es klar, dass die Gruppe der unteren Hälfte, die von Gonzalos Nachbarn Tomás und Yolanda angeführt, die Gewinner sein würden, denn ihre Gruppe hatte zahlreiche Mitglieder und tanzte ausgezeichnet. Zumindestens hofften wir es, denn laut der Tradition wird es ein gutes Erntejahr, falls die untere Hälfte gewinnt. Fast jede katholische Festlichkeit hatte in Wirklichkeit ein altes Fruchtbarkeitsrituell übernommen – Pfingsten war offensichtlich keine Ausnahme!
Leider fiel der Zentraltag der Festlichkeiten mit dem Tag unserer Abreise zusammen. Aber dennoch gelang es uns eine kurze Zeit an dem Geschehen teilzuhaben. Wir verlegten unser Mittagessen bei der familia vor und fanden uns auf dem Hauptplatz ein und verbrachten unsere Zeit mit der gruppe von Yolanda und Tomás, die gerade ihre Ecke vom Hauptplatz für die Feiern schmückten. Die Musiker spielten nun ausschliesslich Saiteninstrumente, aber die Tänze gingen weiter. Ich wurde bald von verschiedenen Mitgliedern der grossfamilie ausfindig gemacht. Sie luden mich erst zu Bier und Wein ein und animierten uns schliesslich alle zum Mittanzen. Gern wären wir länger geblieben, aber schliesslich ging unser Flug am nächsten Tag nach Lima und da halfen auch die Versuche uns zu überreden unsere Reise zu verschieben nichts.
Was allerdings für immer in unseren Herzen bleiben wird sind die wundervolle Gastfreundschaft und der Gemeinschaftssinn unserer Gastgeber. Die Riten, die die Taquileños durchgeführt hatten, lehrten uns den höheren Stellenwert des Kollektivs gegenüber dem Individuum. Sie waren auch Beispiele für den alten Andenbrauch der Gegenseitigkeit. Unter der Herrschaft des Tawantinsuyus haben die Inkaoberhäupter und ihre curacas (Anführer) die Treue ihrer Untertanen durch grosszügige Festschmause mit Unterhaltung, einschliesslich des Verteilens von chicha (Maisbier) und aufwendigen Musik- und Tanzvorführungen garantiert.
Die modernen Würdenträger von Taquile überbieten sich gegenseitig mit Demonstrationen von Grosszügigkeit gegenüber ihren Familien und Nachbarn. Sie würden ihre Ehre und ihr Prestige verlieren, würden sie nicht diese von der Gemeinschaft erwarteten Rolle spielen. Man kann ebenso einen gewissen konkurrenzkampf zwischen den verschiedenen Würdenträgern beobachten, da sich jeder bemüht mehr Unterstützung von der gemeinschaft zu bekommen als seine Rivalen.
Die zwei Tanzgruppen, die von den verschiedenen suyos oder Teilen der insel gleichzeitig am Hauptplatz eintreffen erinnern an die rituellen Scheingefechte zwischen Hanan (oberes) und Hurin (unteres) Cusco der Inkas, die ehemals auf dem Kusipataplatz von Cusco stattfanden:
“Zwei Geschwader von Krieger kamen hervor. Eins mit Zugehörigen von Hanan Cusco, das andere von Hruin Cusco. Eins der Geschwader kam von der einen Seite des Platzes, das andere von der anderen Seite und kämpften gegeneinander. Die Mitglieder von Hurin Cusco spielten sich als die Verlierer auf, während die Mitglieder von Hanan Cusco, die die Kriegszüge, die ihr Herr angestiftet hatte darstellten, jeweils als die Gewinner hervorgingen.” (Quelle: Betanzos, zitiert in Craig Morris & Adriana von Hagen “The Incas”, frei übersetzt von Oda Seedhouse)
Es ist interesant darauf hinzuweisen, dass in Taquile die untere Hälfte, also die südliche Hälfte, die auch das ehemalige Kollasuyu der Inkas repräsentiert, das musikalische Scheingefecht gewinnen muss, um eine gute Ernte zu garantieren. Es könnte sich hier um einen Überrest aus alten Zeiten handeln, als die politische Macht im Titicacaraum eher im Kollasuyu und weiter südlich, in Tiawanaku, konzentriert war anstatt in der nördlichen Hanan Hälfte, die aud das ehemalige Zentrum der Inkakolonialherren zeigt und wo sich auch heute das Zentrum der Gemeinschaft von Taquile befindet.