Im Februar letzten Jahres beschloss ich, einige mir bisher unbekannte Highlights von Tamil Nadu zu erkunden. Zuerst ging es nach Puducherry (früher bekannt als Pondicherry) an der Nordostküste. Bis 1954 war die Stadt eine französische Kolonie und wurde alsdann zum „Unionsterritorium“. Die von Bäumen gesäumten Straßen und die Europäische Architektur im kolonialen Herzen der Stadt mit ihren zahlreichen Cafés und schicken Boutiquen bietet eine ganz andere Atmosphäre im Vergleich zum restlichen Indien. Typisch ist auch die endlose Strandpromenade, die nur von einer mehreren Meter hohen Gandhi-Statue in der Mitte unterbrochen wird. Man findet hier auch eine Reihe von christlichen Kirchen aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Man kann ein Fahrrad mieten, um das French Quarter zu erkunden, das auch als „weiße Stadt“ bekannt ist, oder einen Erkundungsspaziergang rund um das Kulturerbe bei Sonnenuntergang unternehmen. Es ist auffällig, dass viele Straßen ihre französischen Namen beibehalten haben und viele der Cafés immer noch französisches Essen anbieten.
Es gelang mir ein preisgünstiges und uriges Gästehaus am Rande der weißen Stadt zu finden, mit vielen Streetfood-Dhabas, Restaurants und einem Markt in der Nähe, sodass ich alles zu Fuß erkunden konnte. Hier richtete ich mich in einem winzigen Dachzimmer mit privater Terrasse und Blick auf die Stadt ein, doch schon bald wurde ich von unzähligen hungrigen Mücken verdrängt, sodass ich in ein anderes Zimmer (ohne Blick) im selben Gästehaus umzog.
Eine der Hauptattraktionen war natürlich der berühmte Sri Aurobindo Ashram, der vom bengalischen politischen Aktivisten, Dichter, Philosophen und Pädagogen Aurobindo Ghose (1872 – 1950) gegründet wurde, nachdem er sich 1910 aus dem politischen Leben zurückgezogen und sich dauerhaft in Puducherry niedergelassen hatte. Alsbald gesellte sich die charismatische französische Okkultistin Mirra Alfassa zu ihm, die als „Die Mutter“ bekannt wurde. So entstand bald eine Gemeinschaft mit mehr als 400 Gebäuden innerhalb der Stadt, deren „Ashram“ als Zentrum diente, in dem sowohl Sri Aurobindo als auch „die Mutter“ wohnten, und wo sich heute ihre physischen Überreste in den überdachten Marmorschreinen im schattigen Innenhof befinden.
1926 übernahm „die Mutter“ die Leitung des Ashrams, nachdem sich Sri Aurobindo vom öffentlichen Leben zurückgezogen hatte. Von nun an widmete er sein Leben ausschließlich der Meditation und dem Verfassen seiner Werke zum „Integralen Yoga“.
„Integrales Yoga“, auch supramentales Yoga genannt, ist eine auf Yoga basierende körperliche Praxis und Philosophie, deren Ziel die spirituelle Entwicklung der Menschheit ist, um somit das Göttliche auf Erden zu manifestieren.
Laut Sri Aurobindo wurde der Ashram „mit einem anderen Ziel als dem, der solchen Institutionen normalerweise gemeinsam ist, geschaffen. Nicht etwa für den Verzicht auf alles weltliche, sondern es sollte ein Zentrum und Übungsfeld für die Entwicklung einer anderen Art und Form des Lebens sein. Daher sollte das Zentrum der Entwicklung eines höheren spirituellen Bewusstseins und der Vergeistigung dienen.“
1968 gründete „die Mutter“ die experimentelle Gemeinde von Auroville. Der Name leitet sich sowohl vom französischen „Aurore“ (Morgendämmerung) als auch von „ville“ (Dorf/Stadt) ab. Außerdem ist sie nach Sri Aurobindo benannt.
„Die Mutter“ erklärte: „Auroville strebt danach eine universelle Stadt zu sein, in der Männer und Frauen aller Länder in Frieden und fortschrittlicher Harmonie zusammen leben, unabhängig von allen Glaubensrichtungen, politischen Weltanschauunegen und Nationalitäten. Der Zweck von Auroville ist die Verwirklichung der menschlichen Einheit.“
Eine halbstündige Thukthuk-Fahrt von Puducherry auf einer bewaldeten Straße führte mich nach Auroville, wobei ich unterwegs an farbenfrohen südindischen Tempeln mit riesigen Statuen hinduistischer Gottheiten vorbeikam.
Das Besondere an Auroville ist, dass der ökologische Landbau, die ganzheitliche Bildung und die Künste gefördert werden und man diesen den gebührenden Stellenwert für das Wohlergehen der Gemeinschaft einräumt.
Das geförderte Wirtschaftsmodell basiert daher auf persönlichem Wachstum und nicht auf kapitalistischen Ideen.
„Das Ziel seiner Wirtschaft besteht nicht in der Schaffung eines riesigen Produktionsmotors, sei es auf Wettbewerbs- oder Genossenschaftsebene, sondern darin, den Menschen – nicht nur ein paar wenigen, sondern allen Menschen im größtmöglichen Maße – Freude an der Arbeit zu vermitteln. Sie sollen entsprechend ihrer eigenen Natur und mit genügend Ausgleich durch Muße innerlich wachsen, sowie ein einfach reiches und schönes Leben genießen.“
Sri Aurobindo
„Denn dieser ideale Ort würde nicht länger vom Geld beherrscht; der individuelle Wert hätte eine weitaus größere Bedeutung als der materielle Reichtum und die soziale Stellung. Dort wäre Arbeit nicht nur eine Notwendigkeit, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, sondern eine Möglichkeit, sich auszudrücken und die eigenen Fähigkeiten und Talente zu entwickeln und gleichzeitig der Gemeinschaft als Ganzes zu dienen, und somit den Lebensunterhalt jedes Einzelnen zu fördern.“
(Ein Traum, Die Mutter)
Ein wunderschöner Spaziergang durch die Waldwege führte mich ins Herz der Stadt zum Matrimandir. Dieser Tempel wurde in Form eines goldenen Golfballs geschaffen, der von Alfassa als „Symbol der göttlichen Antwort auf das Streben des Menschen nach Perfektion“ konzipiert wurde. Im Inneren des Matrimandir herrscht Stille, um die Ruhe im Raum zu gewährleisten. Der gesamte Bereich rund um das Matrimandir wird als Friedensbereich bezeichnet. Im Inneren des Matrimandir führt eine spiralförmige Rampe nach oben zu einer klimatisierten Kammer aus poliertem weißem Marmor, die als „Ort der Bewusstseinsfindung“ bezeichnet wird.
Leider war es während meines Besuchs nicht möglich, die Meditationskuppel zu betreten, da sie seit COVID-Zeiten für Besucher geschlossen war. Aber es hat mir viel Spaß gemacht, Auroville zu erkunden, und ich hoffe, eines Tages zurückzukommen und ein paar Tage zu bleiben, um dieses interessante Projekt weiter zu erkunden.